Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Az.: 23922/19
Der Fall:
Der Kläger ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Innere Medizin. Ab Juni 2013 war er im Liechtensteinischen Landesspital als zweiter Chefarzt beschäftigt.
Ihm fiel auf, dass vier Patienten verstorben waren, nachdem ein Kollege ihnen Morphin verabreicht hatte. Er hegte den Verdacht der aktiven Sterbehilfe und erhob Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft, ohne vorher das interne Beschwerdesystem der Klinik zu nutzen.
Im Zuge der internen und externen Untersuchungen zu den Vorfällen kam man jedoch zu dem Schluss, dass die Morphingaben medizinisch nicht zu beanstanden und damit die Vorwürfe gegen den Kollegen nicht haltbar waren. Das Strafverfahren wurde eingestellt.
Der Kläger erhielt sodann eine außerordentliche fristlose Kündigung.
Hiergegen zog er erfolglos durch alle Instanzen der Liechtensteinischen Gerichtsbarkeit.
Unter Berufung auf Artikel 10 (Recht auf freie Meinungsäußerung) rügte er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dass seine fristlose Entlassung wegen Einreichung einer Strafanzeige seine Rechte verletzte.
Hintergrund:
Whistleblower (Informanten bzw. Hinweisgeber) beschäftigen schon seit Jahren die Arbeitsgerichte, bis hin zum Bundesarbeitsgericht.
Dabei müssen die Gerichte immer wieder eine Gratwanderung vollführen:
Die Abwägung zwischen dem Grundrecht des Hinweisgebers auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG und den Interessen des Arbeitgebers, seinen Ruf und die wirtschaftliche Existenz zu sichern.
Dabei hat sich die Meinung herausgebildet, dass das „Verpfeifen“ des Arbeitgebers bei Strafverfolgungsorganen oder Behörden eine schwerwiegende Pflichtverletzung sein kann, die je nach Einzelfall sogar eine fristlose Kündigung ohne Abmahnung rechtfertigt. Denn einen Arbeitnehmer trifft im Arbeitsverhältnis eine besondere Treue- und Rücksichtnahmepflicht gegenüber dem Arbeitgeber. Diese Treuepflicht kann aber auch hinter die Interessen des Arbeitnehmers oder berechtigte öffentliche Interessen zurücktreten.
Daher ist von den Gerichten immer eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall vorzunehmen. Von Relevanz sind dabei z. B. die (objektive) Berechtigung der Anzeige, die Schwere der Rufschädigung für den Arbeitgeber oder die Motivation des Arbeitnehmers (z.B. Anzeigen aus Rache). Zudem verlangen die Gerichte grundsätzlich den Versuch einer innerbetrieblichen Klärung. Nur sofern dieser Versuch erfolglos ist oder unzumutbar erscheint, darf sich der Arbeitnehmer an die zuständigen Behörden wenden.
Die Entscheidung:
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste sich mit der Frage beschäftigen, ob der Kläger vor der Anzeige die Vorwürfe selber hätte eingehender prüfen müssen und ob er sich an das innerbetriebliche Meldesystem hätte halten müssen.
→ Muss der Mitarbeiter auch bei einem Tötungsverdacht noch weitere Aufklärung betreiben?
Der EGMR entschied, dass der Kläger zwar aus ehrenwerten Motiven gehandelt habe. Schließlich wollte er Leib und Leben der Patienten schützen, die er in Gefahr sah. Der EGMR erwähnte auch nicht explizit, dass er unbedingt den internen Weg hätte beschreiten müssen. Er stellte aber fest, dass der Kläger seine Informationen aufgrund der besonderen Schwere der Vorwürfe eingehender hätte prüfen müssen. Im Ergebnis bestätigte der EGMR damit den Eingriff in seine Meinungsfreiheit.
→Die Entscheidung wäre vermutlich anders gelaufen, wenn sich die Vorwürfe als zutreffend erwiesen hätten.
Fazit:
Eine Kündigung von Hinweisgebern bleibt ein schwieriges Unterfangen. Gerade weil es keine ausdrückliche gesetzlichen Regelungen gibt, spielen sich die gerichtlichen Entscheidungen allein im Bereich der Interessenabwägung ab. Eine bestehende europäische Richtlinie existiert zwar; sie muss allerdings noch vom Gesetzgeber in nationales Recht umgesetzt werden.
Wenn es sich nicht um krasse Fälle handelt (z.B. leichtfertige und unbegründete Anzeige aus Rache wegen Bagatellvorwürfen), ist das Ergebnis kaum vorhersehbar.
Der EGMR schafft hier ein wenig Klarheit:
Je schwerer die Vorwürfe sind, umso mehr muss der Hinweisgeber die Stichhaltigkeit der Informationen prüfen, bevor er sich an staatliche Stellen wendet. Denn derartige Anschuldigungen können sowohl drastische Folgen für den Beschuldigten nach sich ziehen als auch für den Arbeitgeber.
Autor dieses Beitrags:
RA Christian Michels
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